Liebe vaterlandslose Gesellinnen! Ich möchte Ihnen hier einen kurzen Reisebericht vorstellen von einer Reise die ich um die Jahreswende 2018/19 durchgeführt habe. Wir treffen auf 48 Werke von 48 Autorinnen, die 1948 gestorben sind und somit laut Urheberrecht ab 1.1.2019 mir gehören sollten! Alle Werke, die ich besucht habe, stehen hier auch tatsächlich zum Download bereit als Bilder, Texte, Filme oder Musik bis auf jene die ich nicht gefunden habe, oder deren Verwalter die Werke noch unter Verschluss halten oder diejenigen, die einfach vergessen wurden im Laufe der Zeit.

Aber jetzt geht die Reise auch schon los! Packen Sie ihr Schwinn Bike ein und trällern sie mit mir vergnügt die Ursonate,

Ich starte in der Schweiz auf einer Anhöhe und treffe mich auf der Schlosshöchi bei Holderbank des Malers Albert Schweizer mit Jan Welzl einem tschechischen Abenteurer, Weltreisenden, Erfinder und Eskimohäuptling. Meiner Meinung nach genau der richtige Reisebegleiter auf einer Reise, von der man noch nicht genau weiss, wohin sie einen führen wird. Jan Welzl hat seine Lebensgeschichte zwei Journalisten erzählt, die daraus das Buch 30 Jahre im goldenen Norden (1932) publizierten. Der letzte Journalist ist allerdings erst 1970 gestorben, so dass das Buch noch nicht gemeinfrei ist. Deswegen schreibt Bärenfresser Welzl erstmal einen Brief an alle Zuhausegeblieben.

Bevor ich weiter in den Norden reise besuche ich noch 3 Frauen in der Schweiz, die etwas gemeinsam haben: alle drei verwalten am Ende ihres Lebens den Nachlass ihrer Ehemänner …

Die Bildhauerin Bettina Gomperz heiratete im Jahre 1903 den jüdischen Kulturpsychologen und Philosophen Rudolf Maria Holzapfel. Bettina sah es als Aufgabe an, die Ideen ihres Mannes mit Geld und ihrer Arbeitskraft zu unterstützen, dafür das eigene künstlerische Schaffen zurückzustellen. Nach seinem Tod sah sie es als ihre Hauptaufgabe an, seine Ideen des Panidealismus zu verbreiten. Nach Rudolf Steiners Tod am 30. März 1925 verwaltete Marie Steiner als testamentarische Erbin seinen literarischen und künstlerischen Nachlass. Es ist vor allem ihr Verdienst, dass Steiners Werk unverändert und als Einheit herausgegeben werden konnte. Auf 500 Seiten finden sich hier auch gesammelte Briefwechsel und Dokumente von 1902 – 1925 zwischen Marie und Rudolf Steiner. 1920 heirateten Emmy Hennings und Hugo Ball. Nach Hugo Balls Tod im Jahr 1927 kümmerte sich Hennings um seinen Nachlass und verfasste autobiographische Werke, Erzählungen, Märchen und Legenden. Von Hennings Collage Blume auf blauem Papier wurde 2019 mit Glitchatron bearbeitet und verknotet.

Ich setze meine Reise fort mit dem Gemälde Schwere Wolken aus Nordwest, 1913 von Erwin Nöbbe.

„Wenn man von Süden her durch die nordwestdeutsche Tiefebene dem Norden entgegenfährt, kommt bald der Augenblick, wo sich das Schauen in Ermüdung von draußen zurückzieht, weil jede Überraschung und Spannung der Landschaft aufhört […] Bremen wird sichtbar, aufgestellt an den vorderen Tischrand“ schreibt Sophie Gallwitz 1922 in der Jubiläumsschrift Dreissig Jahre Worpswede über die Künstlerkolonie Worpswede.

In Bremen angekommen sehe ich schon den Kutter im Hafen im Winter von Toni Elster. „Man sagt, Fräulein Elster sei eine ältere Dame. Wenn das wahr ist, wie war es denn möglich, dass so viel Können so lange verborgen blieb?“ Als Elster 1924 an einer Kollektivausstellung in der Bremer Kunsthalle teilnimmt ist sie bereits 63 Jahre alt. Die Presse zeigt sich sichtlich überrascht und alle ausgestellten Werke werden verkauft.

Ein ganz anderes Schicksal ereilt zur selben Zeit Franz Gelb. In Mannheim besitzt die Städtische Kunsthalle Mannheim vor dem 2. Weltkrieg drei Plastiken von Franz Gelb. 1920 fand dort die Ausstellung von Arbeiten der Mannheimer Künstler Franz Gelb und Kurt Lauber statt. Die Plastik Verzweiflung sowie mehrere Zeichnungen Gelbs wurden 1937 als „Entartete Kunst“ beschlagnahmt. Der Verbleib ist bis heute unklar. Es existieren nur fotografische Abbildungen.

„Meine Herren“, beginnt Herr Landsberg, „wir müssen uns nun trennen. Wenn der Krieg vorbei ist — lange wird die Sache ja nicht dauern —, dann hoffe ich, dass wir uns hier alle vollzählig wieder sehen. Ich kann den Betrieb nicht aufrechterhalten; Müller und Schaal sind bereits fort, und mancher von Ihnen wird in den nächsten Tagen Abschied nehmen müssen. Ich selbst bin ebenfalls noch im militärpflichtigen Alter. — Wir haben ja jetzt nur ein Ziel, ein gemeinsames Ziel, unser Vaterland zu verteidigen. Darf ich also bitten.“ Adam Scharrer schreibt 1930 das Buch Vaterlandslose Gesellen. Ein Begriff der im ausgehenden 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert unter Wilhelm II. ein Schimpfwort für die deutschen Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten war.

Wiederum eine ganz andere Beziehung zum deutschen Reich hatte der Künstler und Lebensreformer Fidus. Er trat der NSDAP bei. Wurde von den Nazis allerdings ignoriert und Hitler beim Anblick bereits angetroffener Monumentalporträts so „angewidert“, dass er befahl, sämtliche Werke zurückzuschicken. Zermürbt kritisierte Fidus die nationalsozialistischen Kulturfunktionäre als „Kulturbonzen“ und „Barbaren“: Die Schönheit!

Wir fahren weiter mit dem Opel Laubfrosch von Wilhelm von Opel, das erste in Deutschland am Fließband gebaute Automobil. Opel musste  nach dem Krieg eine Strafe für seine Mittäterschaft im Deutschen Reich zahlen. Hugo Ferdinand Boss musste erst entnazifiziert werden. Er fertigte in den 30er Jahren und im Zweiten Weltkrieg vor allem Uniformen für die SA, SS, HJ und die Wehrmacht.

2 Frauen gründen zu Beginn des 20.Jahrhunderts in Berlin je eine Schule.

Zusammen mit ihrer berühmten jüngeren Schwester Isadora Duncan gründete Elizabeth Duncan 1904 im Berliner Bezirk Grunewald in der Trabener Straße 16 eine Internats-Tanzschule, in der ausgewählte Kinder kostenlos von frühester Jugend an insbesondere musisch-tänzerisch ausgebildet wurden. Körper, Seele und Geist der Schülerinnen sollten sich gleichermaßen entwickeln. „Bei der Aufnahme der Schülerinnen wird in nationaler und sozialer Beziehung kein Unterschied gemacht werden. Auch vater- und mutterlose Kinder, wie Kinder von unbekannter Herkunft sind willkommen“.
Die Alice-Salomon Schule in Berlin ist auch nach 100 Jahren noch sehr ihrer Gründerin und Namensgeberin Alice Salomon verbunden. Ihre Doktorarbeit Die Ursachen der ungleichen Entlohnung von Männer- und Frauenarbeit. Leipzig, 1906 scheint auch heute noch aktuell. 2011 wurde an der Fassade das Gedicht Avenidas von Eugen Gomringer angebracht (ein weiterer Knoten). Weil das Studierendenparlament und der Allgemeinen Studierenden-Ausschuss das Gedicht  Avenidas an der Fassade als sexistisch bezeichnet hatten, entschloss sich die Hochschule dazu, es durch ein anderes Gedicht zu ersetzen.

Dinge die nichts miteinander zu tun haben (es gibt eben auch Zufälle)

Der Ingenieur Christel Hamann entwickelt 1909 in Deutschland die Mercedes Euklid Rechenmaschine und die Ursonate von Kurt Schwitters wird am 5. Mai 1932 in Stuttgart von der Reichsrundfunkgesellschaft aufgezeichnet. Erwin Quedenfeldt schafft 1919 sich selbst als Selbstbildnis in Lichtzeichnung.  Er entwickelte die auf ihn patentierte Erwinotypie. Gleich drei Dinge aus Deutschland die nichts miteinander zu tun haben, mich aber irgendwie beruhigen.

Von hier aus verlasse ich Europa gemeinsam mit Richard Tauber.

Richard Tauber und Franz Lehar spielten zusammen viele Stücke und begründeten so u.a. das silberne Operettenzeitalter. Tauber sings whilst Franz Lehar plays. Während der Komponist Franz Lehar  während der Kriegszeit in Europa bleibt – Dein ist mein ganzes Herz, 1928 – und sich mit dem Deutschen Reich arrangiert unternimmt Richard Tauber der „König des Belcanto“ eine Welttournee und kommt nie wieder zurück nach Deutschland. Diese Welttournee führt mich zuerst nach Südamerika und anschliessend in die USA mit Musik:

Gerardo Matos Rodríguez: La cumparsita, 1917
Vernon Dalhart: The Prisoner’s Song, 1925
Lucille Bogan: Shave ‚Em Dry, 1935
Jan Savitt: One Night Stand, 1944

Und wenn ich schon in Amerika angelangt bin, besuche ich Edward Hill-Amet, der  1898 einen der ersten Filmprojektoren konstruierte, den Amet Magniscope Projector, 1895. Zur selben zeit entwickelte in Frankreich Louis Jean Lumière mit seinem Bruder, den ersten Kinematograf, 1895. Die folgenden Filme sind alle in den USA entstanden:

1. David Wark Griffith: A Corner in Wheat, 1909
2. Charles Bryant: Salome, 1923
3. Edgar Kennedy: From Soup to Nuts, 1928

Spannend fand ich den Besuch bei Zelda Fitzgerald, die die letzten Jahre bis zu ihrem Tod überwiegend in psychiatrischen Kliniken verbringt. 1932 veröffentlichte sie den autobiographischen Roman Save Me the Waltz. Da sie das Buch aber nirgends finden konnte, malte sie ein Stilleben mit Cyclamen.

Und ich setze meine Reise auf einem Schwinn Bike fort, für das Ignaz Schwinn zum Beispiel 1944 das Chain Shifting Device erlangte. Schwinn ist auch heute noch aktiv (http://www.schwinnbikes.com) und erreiche Elizabeth J. Magie in Virginia noch am selben Tag. Sie enwickelte bereits 1903 The Landlord’s Game, den direkten Vorläufer des heutigen Monopoly. Mit der heutigen Ausrichtung des Spiels ist sie überhaupt nicht einverstanden. So sagt sie selbst: „Ich hoffe, dass Männer und Frauen sehr schnell begreifen, dass ihre Armut daher kommt, dass Carnegie und Rockefeller mehr Geld haben, als sie ausgeben können.“

Schnell verlasse ich die USA in Richtung Russland wo  Panzerkreuzer Potemkin von Sergei Michailowitsch Eisenstein am 21. Dezember 1925 im Moskauer Bolschoi-Theater als offizieller Jubiläumsfilm zur Feier der Revolution des Jahres 1905 uraufgeführt wird. Als Propagandafilm sollte der Film starke emotionale Reaktionen im Sinne der sowjetischen Massenideologien hervorrufen. Er geht aber in Form und Inhalt über simple Propaganda weit hinaus und wurde mehrfach als einer der einflussreichsten und besten Filme aller Zeiten ausgezeichnet.

Von hier ist es nicht mehr weit nach Indien wo Sawan Singh Fragen in einem Satsang beantwortet. Ein Abkömmling des indischen Spiels Pachisi ist Mensch ärgere dich nicht (1905) von Joseph Friedrich Schmidt, der 3000 Exemplare an Wehrmachtsoldaten an die Front nach Russland schickte, zugegebenermassen irgendwie sarkastisch, hat aber zum bahnbrechenden Durchbruch des Spiels in Deutschland beigetragen.

Gertrude Caspari:„So gingen im Laufe der Jahre über 50 Bücher von mir in vielen, vielen Auflagen in die deutschen Lande, und nicht nur in ganz Deutschland wurden die Bücher heimisch, nein, sie reisten weit über Land und Meer, […]. In englischer und russischer Übersetzung habe ich Bücher von mir in Händen gehabt. Aus Russland, Amerika, China erhielt ich begeisterte Briefe […]. Caspari war eine der bedeutendsten deutschen Kinderbuch-Illustratorinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie begründete ihre ganz eigene Ästhetik – auch Caspari-Stil genannt: Weihnachten, 1922.

Wir befinden uns immer noch in Indien, wo Mahatma Gandhi 1948 ermordet wurde. Ich vertiefe mich in die gesammelten Werke und Konversationen (1938-39) von Mahatma Gandhi.

Ein kurzer Abstecher nach Korea führt uns zu Hye-sok. Sie gilt als Pionierin der koreanisch-feministischen Schriftstellerei und Malerei. Zu ihren wichtigsten schriftlichen Arbeiten zählt die Kurzgeschichte Kyonghui, 1918 veröffentlicht. Darin entdeckt eine Frau sich selbst und sucht anschließend nach dem Sinn im Leben als „neue Frau“, die erste feministische Kurzgeschichte in der koreanischen Literatur.

Zurück in Europa besuche ich Immanuel Friedländer in seinem Vulkaninstitut in Neapel (in Betrieb von 1914 bis 1934). Die 8‘900 Fotografien aus den Vulkangebieten der Erde befinden sich heute im Bildarchiv der ETH-Bibliothek, eine Auswahl von 800 Bildern ist nun digitalisiert. Hier eine Fotografie mit Reisegruppe vom Vesuv. In Spanien begegne ich  Joan Junceda, Illustrator mit einer traditionellen katalanische Bildgeschichte Auca de Montserrat, 1923. In Frankreich treffen wir Georges Bernanos: „Quand je serai mort, dites au doux royaume de la terre que je l’aimais, plus que je n’ai jamais osé dire.“ Er schrieb Das Tagebuch eines Landpfarrers, 1937. In Grossbritannien bewundere die lebendige Prosa und die präzisen Beschreibungen von Denton Welch. Er studierte Kunst und verfasste drei Romane, zwei Erzählbände und hunderte Gedichte und war zudem auch ein passionierter Tagebuchschreiber. Die weltbekannten Reportagen von Egon Erwin Kisch von fast allen Brennpunkten seiner Zeit sind sehr viel mehr als nur Erlebnisberichte auf fünf Kontinenten, sie sind Zeugnisse seiner kämpferischen Teilnahme am Weltgeschehen, gegen den aufkommenden Nationalsozialismus in Deutschland. Auf die Frage, wie er sein bewegtes und abenteuerliches Leben überhaupt bewältigen konnte, antwortet er: „Ich stamme aus Prag, ich bin Tscheche, ich bin Deutscher, ich bin Jude, ich bin Kommunist, ich komme aus einem guten Haus – irgend etwas davon hat mir immer geholfen.“ Der Rasende Reporter, 1925

1948 stirbt in Wien die Ikone des Witzes, der  mit seinem Humor zahlreiche nachfolgende Künstler beeinflusste, darunter Bertolt Brecht, Samuel Beckett, Loriot, Gerhard Polt und Helge Schneider. Vor allem aber erkenne ich mich selbst (als Österreicher) immer wieder, wie ich auch im ganz normalen Alltag gerne mit Menschen „humorisiere“: Karl Valentin: In der Apotheke, 1941

(Mario Purkathofer)

Werke die immer noch gesucht werden: Das Drehbuch Der grosse Gangster von Abem Finkel, eine digitale Version von Mütter und Amazonen (1932) von Bertha Eckstein-Diener besser bekannt unter ihrem Pseudonym Sir Galahad sowie das Buch „Die Bienen Europas“ von Heinrich Friese (gestorben in Schwerin). 1946 gab Tauber in Zürich ein Abschiedskonzert (ein Mitschnitt der Radiosendung soll erhalten sein). Save me the waltz, die Autobiografie von Zelda Fitzgerald. 30 Jahre im goldenen Norden (1932) von Jan Welzl (gerne auch auf Tschechisch). Wer findet was?